Märchenhaftes Lenormand – die Symbolik des Turms in Rapunzel – Teil 2

In Teil 1 konnten Sie bereits erfahren, dass die Symbolsprache des Lenormand viel mit der Bildersprache der Märchen zu tun hat. Wenn wir uns wieder intensiver mit den vieldeutigen Ebenen der Märchenwelt beschäftigen, entwickeln wir automatisch ein ausgereifteres Verständnis für die tiefliegenden Bedeutungen der Lenormandkarten. Indem wir uns die Interpretation eines Märchens vor Augen führen, werden wir uns bewusster welche Seelenaspekte die Lenormandsymbole ansprechen. Die Verbindung zwischen Lenormand und Märchen ist deswegen auch ein elementarer Bestandteil meines neu erschienenen Buches „Die fabelhafte Welt des Lenormand“ geworden. Viele psychologische Bedeutungen werden anhanddessen erklärt und dem Bedeutungspektrum der Karten hinzugefügt.

Rapunzel sollte uns in Teil 1 als erstes Märchen das Tor zur psychologischen Symboldeutung öffnen. Hauptsymbol dieser Erzählung ist natürlich der Turm. Nichts liegt näher als über seine eingehende Betrachtung vielversprechende Rückschlüsse auf das Symbol des Turms im Lenormand zu ziehen. Genau das werden wir hier im zweiten Teil von „Märchenhaftes Lenormand – die Symbolik des Turms in Rapunzel“ tun und Wundersames entdecken.

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Arthur Rackham – Rapunzel 1909 © wikipedia

In diesem Teil werden wir Rapunzels Schicksal bis zu der entscheidenden Phase näher ansehen, wo sie von der Fee im Turm gefangen gehalten ihr Dasein fristen muss, aber auch zur eigenständigen Frau heranwächst, die sich nicht mehr länger mit ihren Lebensumständen abfinden möchte.

Doch zunächst führt uns das Grimm´sche Märchen zu jenem Tag, an dem „Rapunzel, dass das schönste Kind unter der Sonne ward“, für niemanden mehr sichtbar weggesperrt wurde. Als es zwölf Jahre alt war, schloss es die Zauberin in einen Turm, der in einem Walde lag und weder Treppe noch Türe hatte; nur ganz oben war ein kleines Fensterchen. Nicht zufällig begegnen wir hier der Zahl 12.

Wie ich in der „Fabelhaften Welt des Lenormand“ schreibe, „symbolisiert die 12 den Ablauf eines Zyklus (12 Monate, 12 Stunden, 12 Tierkreiszeichen) und den Eintritt in die nächste Phase.“ Nicht weiter verwunderlich, dass Rapunzel sich nun von ihrem alten Leben verabschieden muss, das sie bis dahin zwar unter der Obhut der Fee aber dennoch in Freiheit führen durfte. Die 12 ist im Lenormand die Zahl der Eulen, die das Prinzip der Freiheit und des Aufbruchs in eine neue Zeit ganz und gar versinnbildlichen. Gerade um zu vermeiden, dass das Kind allmählich seine eigene Welt und seine eigene Persönlichkeit entdeckt, wird es mit 12 Jahren seiner Freiheit beraubt.

Nun stellt der Turm im klassischen Sinne ein Gefängnis dar. Das Bild, das wir von ihm im Märchen wahrnehmen, ist in vollständiger Übereinstimmung mit den herkömmlichen Bedeutungen des Turms im Lenormand: Isolation, Zwänge, Zerstörung, Verneinung des Lebens, Ausgrenzung.

Wie diese eindeutig negativen Attribute des Turms im Märchen auf die Spitze getrieben werden, drückt folgender Fluch aus, den die Fee über den Prinzen spricht, als sie ihn bei einem seiner Besuche ergreift: „ „Aha“, rief sie höhnisch, „du willst die Frau Liebste holen, aber der schöne Vogel sitzt nicht mehr im Nest und singt nicht mehr, die Katze hat ihn geholt und wird dir auch noch die Augen auskratzen. Für dich ist Rapunzel verloren, du wirst sie nie wieder erblicken !“ Die Dornen, in die er bei seinem Sturz aus dem Turm fiel, sollten ihm tatsächlich das Augenlicht kosten, das erst mit der Heilung am Ende des Märchens wiedererlangt.

Interessant ist in diesem Zusammenhang das Sinnbild des schönen Vogels, der nicht mehr singt. Bereits im Käfig sitzend soll er nun zu allem Übel auch noch seine Federn lassen. Damit scheint das furchtbare Schicksal Rapunzels endgültig besiegelt. Als Vögel werden häufig auch die Eulen im Lenormand bezeichnet. Ihrem freiheitliches Streben wird in diesem Märchen durch den unheilvollen Ausruf der Fee zum zweiten Mal ein jähes Ende gesetzt. Wieder dürfen die Eigenschaften der Eulen, die dem Turm genau entgegengerichtet sind, nicht zum Leben erweckt werden: Selbstbestimmung, Individualität, Auflehnung gegen festgefahrene Systeme und Entdecken von Neuland. Rapunzel, die durch die Liebe des Prinzen eine berechtigte Hoffnung auf ein eigenes Leben hatte, verliert mit einem Schlag alles, was ihre Befreiung bedeutet hätte. Indem das Stückchen hart erkämpfter Freiraum ihr von der Fee entzogen wird, soll auch sie nichts mehr am Leben halten. Zum zweiten Mal wird das Recht auf Freiheit  und damit das Prinzip der Eulen gewaltsam unterdrückt.

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Klimt – Stoclet Fries © wikipedia

Aller widrigen Umstände zum Trotz gelingt es den beiden Liebenden bis zum Tag der Verwünschung eine innige Beziehung aufzubauen, die sogar sichtbare Früchte trägt (Rapunzel wird schwanger, ihre Kleider passen ihr nicht mehr, die Fee bemerkt es).

Kein Turm ist zu hoch, keine Mauer ist zu fest und keine Macht ist zu stark, dass sie den Weg der Liebe und des Wachstums brechen könnten. Dies ist eine wesentliche Botschaft, die wir bei der Deutung des Turmes immer im Auge behalten sollten. Dennoch ermöglicht der Turm die vollständige Entfaltung des Guten nicht an jenem Punkt unseres Lebens. Wenn wir allerdings den Weg aus der Dunkelheit suchen, verwandelt sich die steinerne, scheinbar unbarmherzige Hoheit des Turms zu einem Leuchturm, der uns ans Licht führt. An den rechten Ort, der uns es uns gewährt, Liebe, Freiheit,Heilung und Wachstum zu erfahren.

Rapunzel wird in die Wüste vertrieben. Scheinbar einem noch feindlicherem Raum als den Turm ausgesetzt, wird ausgerechnet die Wüste nach einem andauernden Martyrium zum Ort der Schicksalswende. Rapunzel zieht dort in ärmlichen Verhältnissen ihre Zwillinge groß. Eines Tages, nach langem Umherirren, findet sie dort der blinde Prinz. Mit ihren Tränen macht sie ihn sehend. Denn gerade die Wüste, die eher lebensvernichtend ist, kann sich in eine fruchtbare Oase verwandeln, sobald Regen fällt. Die Tränen Rapunzels gleichen diesem Regen, mit dem die Heilung erfolgt und das Wachstum und die Liebe in Freiheit endlich geschehen dürfen (alle vier werden zu einer Familie, der Prinz sieht zum ersten Mal seine Kinder und hält seine vermisste Frau in Armen).

Der Turm als Mittelpunkt von Rapunzels Symbolwelt zeigt uns, dass die negativen, lebenverneinenden Aspekte des Turms in positive, lebensbejahende Aspekte verwandelt werden können. Seine Grenzen sind überwindbar. Sie bilden nur solange ein Gefängnis, wie wir sie gegeben hinnehmen. Jede Grenze (siehe auch die Berliner Mauer!) birgt das Potential von mutigen, liebenden und nach vorne blickenden Menschen aufgelöst zu werden. Es ist das Licht, das erst durch die Dunkelheit hell wird.